Hamburg, 4. Juni 2015. Die Pharmaindustrie sieht sich als hoch innovativ
und unverzichtbar für den Standort Deutschland. Darauf wird im Rahmen des
Pharmadialogs gern hingewiesen. Auswertungen, die Wissenschaftler der
Universität Bremen mit Unterstützung der Techniker Krankenkasse (TK) in den
vergangenen Jahren durchgeführt haben, kommen zu einem differenzierteren
Ergebnis. Neue und patentgeschützte Präparate sind oft sehr teuer, können
aber häufig gegenüber den bereits verfügbaren Mitteln keinen wesentlichen
Zusatznutzen für den Patienten nachweisen.
„Die Forschung und Entwicklung von Medikamenten ist wichtig. Auch wenn die
Pharmaindustrie in Deutschland viele Arbeitsplätze bietet, dürfen Gewinne
mit Arzneimitteln ohne Zusatznutzen aber nicht auf dem Rücken der
Versicherten gemacht werden“, so Dr. Jens Baas, Vorsitzender des Vorstands
der TK.
In den Innovationsreporten 2013 und 2014 und im Bestandsmarktreport wurden
57 Wirkstoffe anhand von Kriterien der evidenzbasierten Medizin und der
TK-Verordnungsdaten analysiert. In der Ampelbewertung schafften es nur vier
Präparate auf „grün“. 27 Arzneimittel wurden mit „gelb“ gewertet und 26 mit
„rot“. In die Bewertung flossen drei Dimensionen ein: Erstens, ob es
bereits verfügbare Therapien zur Behandlung der jeweiligen Krankheit gibt.
Zweitens, ob der Wirkstoff tatsächlich einen relevanten (Zusatz-)Nutzen
vorweisen kann. Und drittens, ob die Kosten im Vergleich zu vorhandenen
Therapien höher oder niedriger ausfallen. Trotz der geringen
Innovationskraft verursachten diese Arzneimittel 2014 etwa zwölf Prozent
der Bruttoarzneimittelausgaben der gesetzlichen Krankenkassen. Eigentlich
soll dies seit 2011 durch das Arzneimittelmarktneuordnungsge
verhindert werden.
„Das AMNOG soll dem Arzt eine Orientierung im Versorgungsalltag bieten.
Wenn weiter teure Arzneimittel ohne Zusatznutzen für den Patienten
verschrieben werden, ist das AMNOG noch immer nicht in der Arztpraxis
angekommen“, so Baas.
AMNOG muss im Versorgungsalltag ankommen
Trotz der frühen Nutzenbewertung, die der Gesetzgeber mit dem AMNOG
eingeführt hat, zeigt sich, dass zum Zeitpunkt der Markteinführung oftmals
noch keine ausreichenden Erkenntnisse darüber vorliegen, welchen
therapeutischen Fortschritt neue Arzneimittel im realen Versorgungsalltag
darstellen. Daher sollte die Industrie auch nach Zulassung zur Durchführung
von qualitativ hochwertigen Versorgungsstudien verpflichtet werden.
AMNOG muss verbessert werden
Im Gegensatz zum starren AMNOG-System, sollten die Kassen zudem mehr
Möglichkeiten bekommen individuelle Preisverhandlungen mit den Herstellern
zu führen. Geheime Arzneimittelpreise und Rabatte schützen die
internationalen Verhandlungspositionen der Pharmahersteller und flexible
Lösungen können verhindern, dass Produkte aus rein wirtschaftlichen Gründen
aus dem Markt genommen werden. Beides führt zu einer besseren Versorgung
und zu niedrigeren Preisen.
Im Mai 2015 ist der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in die Situation
geraten, dass er dem Arzneimittel Glybera (Wirkstoff: Alipogentiparvovec,
Therapiekosten etwa eine Millionen Euro) per Gesetz zunächst einen
Zusatznutzen attestieren musste, obwohl das Nutzen-Risiko-Verhältnis von
der Europäischen Arzneimittelagentur noch nicht abschließend bewertet
werden kann. Arzneimittel, die wie Glybera zur Behandlung von seltenen
Erkrankungen (Orphan Drugs) eingesetzt werden, bekommen per Gesetz
automatisch einen Zusatznutzen attestiert, wenn sie die Umsatzgrenze von 50
Millionen Euro im Jahr nicht überschreiten. Das macht fachlich keinen Sinn.
Denn auch wenn ein Arzneimittel für die Therapie einer seltenen Erkrankung
entwickelt wurde, sollte es nur dann eingesetzt werden, wenn es einen
wirklichen Zusatznutzen für die Patienten hat.
Die Industrie ist zudem aufgefordert, die Qualität der Studien zu
verbessern und die Ergebnisse transparenter zu machen. „Wer ein wirklich
innovatives Arzneimittel entwickelt hat, muss vor wissenschaftlicher
Evidenz nicht zurückschrecken und den Vergleich zu bewährten Präparaten
nicht scheuen“, so Baas.